Ach und, wenn es ihnen möglich ist, gehen Sie in Stille. – eine Rückschau (Auszug), Herbst 2023
Die Aa entspringt 16 km von hier. Fließt dann – in Knicken – durch den Aasee und teilt die Stadt Münster ab hier in Überwasser und Unterwasser. Ein Hund und sein Frauchen gehen durchs Bild – zwischen mir und der Gruppe hindurch. Ihr Flussbett wurde verbreitert. Sie wurde von Beton befreit. Nun fließt sie recht schnell nach Norden in die Ems, und mündet in die Nordsee. Nahe der Niederlande. (Die zweite Hälfte des Wortes betone ich … aus Freude daran. „Nieder-Lande.“)
Sie gluckert, wo es strudelt. Viele Male habe ich diesen Satz wiederholt. Im Appartment zwischen Flachbildschirm und Einbauküche. Sie gluckert, wo es strudelt. Es hört sich an als würde sie unser Boot umspülen.
Sie fließt in der Weltgeschichte umher, während diese Bäume... (Ich gehe entgegen der Fließrichtung und berühre einen der drei sehr jungen Buchen nah am Strom)... bleiben. Gerade in den Himmel wachsen. Sie wachsen und wachen. Auch Münster bleibt an Ort und Stelle. Wir gehen mit dem Fluss...
Ob sie bemerken, dass wir zwar mit dem Fluss gehen, aber dafür erstmal die große Straße überqueren müssen und, ob sie weiter denken: Aha, sie wählt den Weg über die Ampel (sehr weit links vom Fluß), weil die Straße anders nicht überquerbar ist? Mach dir nicht so viele Gedanken, denke ich. Und habe dabei das Telefonat mit Bernd Drücke, dem Chefredakteur der "Graswurzelrevolution" im Ohr, und den Blick meines Freundes auf dem Gesicht. Gut, dass wir jetzt hier ins Parkhaus gehen. Der Regen wird stärker, als ich hinein tauche. Aus dem Augenwinkel sehe ich, eine Grünphase reicht nicht für alle.
Wie ich es mir erhofft hatte, warten die Autos im Inneren des Parkhauses darauf, daß wir aus ihrem Weg gehen. Das ist unser Haus. Ich stelle mich vor einen ausgeschnittenen Kreis in der Betonwand, die zum zweiten Parkdeck führt. Ich hatte diesen Ausschnitt bei meinem Rundgang zuvor gar nicht gesehen. Wie schön. Singende Kleine von hinten beleuchtet. Schnell hole ich mir das Bild von „Moondog“ in den Kopf. Haare, Bart, langes Gewand. Der Straßenmusiker, der hier in Münster gestorben ist. Ich hätte ihn so gern gesehen gehört getroffen. Puh, ...
Sometimes I am afraid ... don’t know why and what for.
But it has something to do with ... finding the words.
Durch meinen Kopf strömt das Gefühl von vor zwei Wochen. Ich stehe mit dieser Heckenschere in den französischen Brombeeren, weiß, ich werde nach Münster fahren, nach Westdeutschland, wo „die Welt noch in Ordnung ist“, schneide den Weg frei, damit die hier Wohnenden an das Feuerholz kommen, was hinter dem Haus liegt, das sie einst gemeinsam kauften und in dem sie jetzt nur noch streiten und habe plötzlich diese Worte im Kopf.
Sometimes I don’t know how to speak. I cannot find the right words. The right language, you know. And in this case I usually start to sing.
Ich singe das Lied an die Erde. Aye Kerunene... Gretas Einschlaflied, das ich irgendwann nicht mehr singen durfte. Bitte nicht das, Mama, hat sie gesagt. Hier im Parkhaus quetsche ich leider ganz schön un die Töne heraus. Es ist laut drumherum. Ganz anders, als im dickwandigen Apartment gestern Nacht. Im Liegen habe ich gesungen. Es war da, das Lied an die Erde.
Um etwas von meinen Grimassen zu hören, sucht der Lehrer für Gebärdensprach-Dolmetscher*innen sein Hörgerät aus der Tasche zu fischen. Als ich fertig bin, hat er es im Ohr. Es fiepst.
Als wir wieder ans Licht treten, bemerke ich die Dame wieder. Entscheide mich spontan die Szene auf der Bank, mit dem Punkt und der Landschaft dahinter, über die ich in der Rolle eines Philosophen sprechen wollte, wegzulassen. Denn nur, damit „meine“ Gruppe erlebt, wie es ist, nichts zu sehen und trotzdem weiter zu gehen – mit geschlossenen Augen – muss die Führung nicht 20 Minuten länger dauern. Ich nehm dich ein anderes Mal wieder mit hinein, du alter, weiser „philosopher in TV“.
Probieren sie einmal in der Geschwindigkeit des Flusses zu gehen, sage ich zur Person, die mir folgt. Die Dame lacht, sagt es der folgenden Person weiter und rennt plötzlich an mir vorbei. Hüpfend und beschwingt. Wieder verlieren wir die Gruppe – hier wo der Weg so schmal ist, grün und schmal und mit Geländer – komplett aus den Augen.
Deshalb entschleunige ich meinen Gang. Ich finde mich in meinem nächsten Bild ein, zwischen den Brückenfeilern und Kirchturmspitzen. Aber, und das verfolgt mich wohl, ich kann mich von Außen nicht sehen. Und deshalb weiß ich nicht ganz genau, wo mich positionieren. Ein Rohr in der Wand, aus dem Wasser in die Aa fließt, gibt mir ein akustisches Signal: Bleib einfach hier stehen.
In Münster stehen 84 Kirchen und Kapellen. 55 dieser sakralen Gebäude haben eine Spitze, die in den Himmel ragt.
Punkt, Komma, Wege
Input / Stadtspaziergang
Gruppenstärke ca. 30 Personen
Dauer: 120 min
Münster
2023
Auf der „Promenade“, dem Lauf der ehemaligen Stadtmauer Münsters, führte Aichinger die Teilnehmer*innen um den Kern der Fahrradstadt.
Zu Wort kamen u.a. die Büste der Annette von Droste-Hülshoff und das Denkmal zu Ehren von Paul Wolff. Aber auch geräuschlose Stimmen und Gesänge traten auf.
Die Performance wurde in Deutsche Gebärdensprache übersetzt und fand im Rahmen der Konferenz: Welt und Anschauung der Burg Hülshoff – Center for Literature statt.